"...aber momentan fühle ich mich inmitten dieser hektisch rumwuselnden Menschenmassen äußerst unwohl. ..."
Das muss ich den Menschen als Beweis dafür zeigen, dass ich nicht
verrückt und alleine bin, Menschen, die sich nicht trauen, unsere
Gesellschaft negativ zu sehen. Immer wieder vergleiche ich etwas in
unserer Welt mit dem Film Momo.
Mich stören derzeit noch weitaus mehr Dinge an unserer Kultur.
- Die Überbevölkerung, die mancheiner nicht wahrhaben will.
- Die individuelle Übermotorisierung, die den stetig weiteren Ausbau von
Autobahnen und anderen Verkehrsnetzen zwingend erforderlich macht und
schon derzeit einen großen Teil an Staus und dichten Straßen verursacht.
- Die steigende Flexibilität und Mobilität, die von geistig Blinden als
Vorteil und Fortschritt verkauft wird, obwohl es Rückschritt und
Schwäche ist. Privat und beruflich soll man regional immer flexibler
sein, was ein teueres Auto, teuren und endlichen Sprit und Platz
erfordert. Aber auch das Begeben in den dicken Verkehr, der mich wegen
der Übermacht an dummen oder aggressiven Fahrern manchmal den letzten
Nerv raubt und bei Wintereinbruch die wahre Schwäche unserer Lebensform
erst klar verdeutlicht.
Jetzt ist mal richtig Winter und vieles liegt lahm. Da zeigt sich erst
unsere Abhängigkeit von all diesem "Fortschritt". Fällt ein Pfeiler
unseres Lebensstandards aus (egal ob Strom, Internet, Verkehr, etc.),
sind wir schon völlig aufgeschmissen. Wenn sich das heute so zuspitzt
wie letzte Woche mit 40 Km Stau auf der A1, dann kann ich Weihnachten in
meiner 40m²-Wohnung in dieser fernen Abgelegenheit alleine feiern. Ich
muss ja Sonntag wieder zurück sein.
Es gab mal eine Zeit, in der diese Mobilität und multimediale
Fernkommunikation schlicht und einfach nicht notwendig war. Da musste
man nicht mehrere hundert Kilometer entfernt wohnen, weil man nämlich
einen neuen Job noch irgendwo um der Ecke in der nächsten Straße finden
konnte. Da musste man nicht zum Einkaufen in die nächste größere Stadt
oder Shopping-Zentrum fahren, wie in den USA vorgemacht wurde (deswegen
ist mein Heimatdorf und viele andere Kleinstädte von den ganzen
leergefegten und verbarrikadierten Geschäften betroffen, die alle ins
Zentrum abwanderten). Diese damalige Autarkie ist für mich immer ein
Vorteil gewesen.
Alles Nötige zum Leben vor Ort und mit dem Fahrrad erreichbar. Kein
hektischer Verkehr, in dem sich die Menschen am liebsten gegenseitig
umbringen würden. Die Genervtheit wird doch immer schlimmer und fährt
man schon bei Glätte am Limit kurz vor dem Ausbrechen des Hecks, kommt
von hinten ein Kollege, der drängelt, bei nächster Gelegenheit überholt
und den Motor dabei gezielt so laut aufdreht, als wolle er mit dem Lärm
des Motorblocks deine Scheiben einschmettern.
Wir leben uns durch diese Zentralisierung, flexiblen Motorisierung und
Überbevölkerung immer weiter auseinander, jeder lebt in der Masse und
Wohlstand zunehmend isolierter, anonymer, ohne tieferen Bezug zu seinem
sozialen Umfeld - ohne Empathie und Zusammenhalt. Alles nur
oberflächlich. Gerade im Verkehr - unser Auto als zweites Zuhause -
ist die Anonymität deutlich. Man sieht und spricht nur von "dem da
vorne", bildet Klischees nach Autotyp und Fahrweise und kann nicht
miteinander kommunizieren, was manchmal notwendig wäre, um Konflikte als
eventuelle Unabsichtlichkeit zu klären oder ein Ventil zu haben, wenn
jemand von hinten drängelt (als Vordermann kann man sich dagegen ja
nicht wehren). Die Mitmenschen in unserer "zivilisierten" Welt sind nur
mehr Hindernisse und Rivalen, die uns alle stören.Typisch dafür:
Auf dem Weg mit dem Auto zum Dortmunder Weihnachtsmarkt am Samstag-Abend erlebt man den blanken Nervenkrieg mit Genervtheit und Aggressionspotential beim Kampf um einen Platz in einer Tiefgarage. Aber dann auf dem Markt sind die selben Menschen auf mal in Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung, als hätten sie einen Schalter, den sie für ihre Stimmung und Gesinnung von "kurz vor dem Amoklauf und alle Verfluchen-Modus" auf "Liebe deinen Nächsten-Modus" umlegen können. Wenn sie das wirklich können, kann man sie dafür womöglich loben und respektieren. Ich für meinen Teil gehe da lieber meinen eigenen Weg mit weniger Widerständen, die einem die Weihnachtszeit vermiesen können.
Übrigens: Zu der Widersprüchlichkeit von dem, was man hier als
"Fortschritt" bezeichnet, habe ich innerhalb des letzten Jahres eine
kluge Essay gelesen. Ich weiß nur nicht mehr, wo ich sie finde. Wenn ich
sie wiederfinde, bringe ich die auch noch hier rein.
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